Die Herzratenvariabilität während des Schlafs zu messen, hilft dabei, mehr über den gesundheitlichen Zustand zu erfahren. Diese Messungen lassen Rückschlüsse zu, wie gut sich der Körper erholen kann. Darüber hinaus verraten die HRV-Parameter viel über den Lebensstil, geben Hinweise auf Krankheiten und eine Einschätzung des Trainingszustands.
Während wir schlafen, passiert viel in unserem Körper. Mit genau abstimmten Abläufen sorgen Hormon- und Nervensystem dafür, dass der Mensch am Morgen wieder erholt in den Tag starten kann. Weil während wir schlafen so viel im Körper abläuft und unser Schlaf so kompliziert ist, habe ich mich an einen Experten gewendet: Dr. med. Lutz Graumann ist Sportmediziner aus Rosenheim mit den Arbeitsschwerpunkten Förderung und Steigerung der individuellen Leistungsfähigkeit.
Um Enttäuschungen vorzubeugen, sei gleich zu Anfang erwähnt, dass Aussagen über die Herzratenvariabilität (HRV) in der Nacht nur mit Langzeitmessungen und mit entsprechenden Messgeräten möglich sind. Hinsichtlich der Abtastrate bei der Pulsmessung zieht Dr. Graumann eine untere Grenze bei 250 Messungen pro Sekunde, besser wären 500. Alles was darunter liegt, liefert keine verlässlichen Daten.
Auch warnt Dr. Graumann davor, sich bei der Bewertung des Schlafs nur auf die HRV zu konzentrieren. “Für eine sinnvolle Aussage darüber, was in der Nacht passiert, müssen auch die Veränderungen von Puls, Atmung und Bewegung in Betracht gezogen werden”, erläutert Dr. Graumann. “Nur aus dem Zusammenspiel von mehreren Markern lassen sich aussagekräftige Erkenntnisse über die Schlafqualität gewinnen.”
Bewertung der HRV
Vor allem die Aktivität des Parasympathikus während des Schlafs verspricht Erholung. Kann er überwiegend die Führung übernehmen, wird es eine gute Nacht. Sein Wirken ist erkennbar, wenn HRV-Parameter wie High Frequency (HF) und Total Power im Schlaf ansteigen. Auch beim pNN50 verhält es sich so: Sein Wert sollte deutlich höher ausfallen als am Tag. Ist das nicht Fall, ist es ein Anzeichen für Erschöpfung. Für Anspannung steht auch, wenn die Total Power in der Nacht sinkt und der LF-Parameter ansteigt.
Übrigens: Die Herzfrequenz und die HRV-Parameter SDNN, RMSSD, HF und LF folgen einen Tag-Nacht-Rhythmus, wie Vanderwelle und seine Kollegen in ihrer Studie feststellen. Zwischen 5 und 7 Uhr in der Früh sind die vier HRV-Parameter am höchsten. Grob geschätzt, könnte das bei den meisten Menschen die letzte Tiefschlafphase sein.
Bewertung der Pulskurve
Im Verlauf des Schlafs sollte die Pulskurve abfallen. Je mehr sie das tut, umso besser. “Im Idealfall erreicht der Puls im ersten Drittel der Nacht, also nach etwa drei Stunden, seinen ersten Tiefpunkt. Kommt es zu keiner Absenkung, muss man betrachten, mit was der Körper noch beschäftigt ist. Meist sind Alkohol und Koffein im Spiel”, so Dr. Graumann.
Sportler, die ihren Ruhepuls kennen, können noch mehr Erkenntnisse aus der Verlaufskurve während der Nacht ziehen. “Ich rate allen meinen Sportlern zur regelmäßigen Messung des Ruhepulses, weil er uns so viel über das Befinden verrät”, berichtet Dr. Graumann. “Ernährungssünden und Unverträglichkeiten lassen sich an einer Erhöhung von fünf bis sechs Schlägen pro Minute erkennen. Mit zehn Schlägen mehr können sich eine Krankheit oder ein Übertraining ankündigen. Ab einer Steigerung um die 15 Schläge muss man aufpassen, dass jemand nicht ernsthaft krank wird.”
Schlafphasen – kurz und knapp
Schlaf ist kein einheitlicher Zustand, vielmehr wechseln sich verschiedene Schlafphasen mit mehr oder weniger Ruhe und Aktivität ab. Nach einer Einschlafphase, in der sich Hirnstromaktivität, Herzfrequenz und Körpertemperatur verringern, beginnt die erste Tiefschlafphase. Sie wird als sehr erholsam bewertet. Danach kommt es zur so genannten REM-Phase (REM: rapid eye movement), die sich durch ruckartige, schnelle Augenbewegungen auszeichnet. Diese Phase wird auch als “Traumschlaf” bezeichnet, hier sind nicht nur die Großhirnrinde aktiv, sondern auch andere Hirnbereiche. Im Laufe einer Nacht wird der Tiefschlaf etwa alle 90 Minuten durch vier bis fünf Traumphasen unterbrochen.
Schlafphasen in der Auswertung bestimmen
Nur Tief- und Traumschlaf können ohne die aufwendige, in Schlaflaboren übliche Technik anhand von Atmung, Puls und HRV erkannt werden.
Kennzeichen für Tiefschlaf
“In dieser Phase ist der Körper völlig entspannt. Es gibt nur leichte Bewegungen und Lagewechsel. Besonders erholsam wird der Tiefschlaf, wenn sich Atmung und Puls in einem Verhältnis von 1:4 synchronisieren”, beschreibt Dr. Graumann. “Bei den HRV-Parametern verringern sich LF und VLF.”
Kennzeichen für Traumschlaf
“Der Körper ist fast regungslos. Die Muskeln scheinen wie gelähmt. Nur die Augen bewegen sich unter den Lidern in alle Richtungen. Es kommt zu einer Zunahme von Herz- und Atemfrequenz. Auch ein Anstieg von den HRV-Parametern LF und VLF kann normal sein”, so Dr. Graumann.
Bewertung der Schlafphasen
Für eine Bewertung ist die Länge der einzelnen Tiefschlafphasen und der Wechsel mit dem Traumschlaf interessant.
“Ein gutes Zeichen ist schon, wenn sich fünf Traumschlafphasen und vier Tiefschlafphasen im Diagramm erkennen lassen. Bestenfalls wird am Morgen von einem Traumschlaf in einen leichteren Schlaf gewechselt. Dann fühlt man sich nach der Nacht meist frisch und erholt”, erläutert Dr. Graumann.
Wie erholsam der Schlaf war, lässt sich auch an der Tiefschlafphase erkennen. Normalweise ist sie in den ersten Schlafzyklen am längsten und intensivsten. Auch die Verteilung der Schlafphasen liefert Informationen. “In einer erholsamen Nacht sollte die Tiefschlafphase bei Erwachsen etwa 15 Prozent ausmachen”, gibt Dr. Graumann an. “Bei Sportlern liegt der Anteil eher bei 20 bis 25 Prozent, natürlich ist er abhängig von der Intensität des Trainings. Ganz ähnlich verhält es sich bei Menschen, die in eine Erschöpfung steuern. Bei ihnen verlängert sich die Tiefschlafphase, weil der Körper zunehmend mit Regenerationsprozessen beschäftigt ist.”
Risikopatienten erkennen
Mehrere Messungen sind sinnvoll, vor allem wenn es um eine Einschätzung von gesundheitlichen Risiken geht. “Meist entdecken wir schon in der ersten Nacht unsere Risikokandidaten”, berichtet Dr. Graumann. “Atmung, Herzfrequenz und HRV geben uns die Hinweise, die wir dann weiter diagnostisch abgeklären.”
In der Arbeitsmedizin ist die frühzeitige Erkennung von überlasteten und dauergestressten Menschen von großer Bedeutung. Langzeitmessungen liefern für eine Gefährdung wertvolle Hinweise: “Etwa 15 Minuten nach Schlafbeginn sollte die erste Tiefschlafphase einsetzen. Dauert der Beginn länger, muss man unbedingt nach weiteren Zeichen für eine einschränkte Erholungsfähigkeit in der Auswertung schauen,” erläutert Dr. Graumann. “Hier sollte man auch immer schauen, wie intakt die Schlafarchitektur ist. Wie gut lassen sich die einzelnen Schlafphasen im Diagramm erkennen?”
Etwas komplizierter wird die Abgrenzung einer erhöhten Atemfrequenz. “20 Atemzüge mehr in der Minute können ein Indiz für einen Diabetes, aber auch für zu späten und zu intensiven Sport sein. Eine Schlafapnoe muss ebenfalls in Betracht gezogen werden, sie zeichnet sich zusätzlich im Diagramm durch das typische Sägeblatt-Muster im EKG aus.”
Wie der Tag die Nacht beeinflusst
Tag und Nacht wechseln sich ab. Auf Wachsein folgt der Schlaf. Sie ergänzen sich und gleichzeitig beeinflussen sie sich gegenseitig. Während des Schlafs regeneriert sich der Körper vom Tag. Die Vorbereitungen für eine erholsame Nacht beginnen bereits am Tag.
Läuft der Körper auf Hochtouren, braucht er zwischen den Belastungen Ruhezeiten, um sich zu erholen. Finden sie während des Tages nicht statt, wird die Nacht zum Tag. Das nächtliche Erholungsprogramm kann nicht starten, solange der Körper auf Leistung ausgerichtet ist.
Bei Stress wird vermehrt das Hormon Kortisol ausgeschüttet. Das Stresshormon ist in seiner Wirkung der Feind der erholsamen Nacht. Wird es nicht abgebaut, summiert es sich bei anhaltender Anspannung weiter auf. “Mit regelmäßigen Pausen am Tag lässt sich erholsamer Schlaf vorbereiten”, empfiehlt Dr. Graumann.
“In einer Langzeitmessung kann ziemlich genau nachvollzogen werden, wie der Tag gestaltet wird. Deshalb ist uns wichtig, dass an verschiedenen Tagen gemessen wird. Optimal sind ein Tag am Wochenende, ein normaler und ein stressiger Arbeitstag. Da entdecken wir dann auch, dass es oft Unwissenheit darüber besteht, was die Schlafqualität mindert: z. B. intensiver Sport am Abend, späte und üppige Mahlzeiten sowie zu viel Alkohol.”
Natürlich muss man in seine Betrachtung auch einbeziehen, ob eher eine körperliche oder geistige Tätigkeit am Tag überwiegt. Menschen, die mehr geistig als körperlich arbeiten, haben eine kürzere Tiefschlafphase.
Fazit von Dr. Graumann
“Guter Schlaf ist wertvoll. Ausgeschlafene Menschen sind nicht nur fit und munter am Tag, sondern auch schlauer, kreativer und schöner. Mit den Erkenntnissen aus Atmung, Bewegung, HRV und Puls lässt sich viel für eine bessere Schlafqualität anfangen.”
Wie immer ein Artikel der Lust macht, tiefer in das Thema einzusteigen. Jüngste eigene Untersuchungen im Rahmen einer Master-Thesis zu Schlaf und HRV, bzw. HRV-Biofeedback Training und seine Effekte auf die Schlafqualität, wiesen diesbezüglich eine sehr positive Wirkung nach. Jedoch wurde die Schlafqualität nicht per HRV-Messung, sondern in Form von evaluierten Schlaffragebogen und Schlaftagebüchern ermittelt. Die Erkenntnisse werden wir nun zeitnah in das Produkt Stress Pilot einfließen lassen.
Es hat den Anschein, dass insbesondere bei Burnout-Syndrom die Wechselwirkung von Schlaf und subjektivem Stressempfinden eine große Rolle spielt. Auch hier erfolgt zurzeit eine Begleitung wissenschaftlicher Studien.
Ich freue mich sehr, dass den Zusammenhängen zwischen Schlaf und HRV die verdiente Aufmerksamkeit geschenkt wird.
viele Grüße
Michael Lutz
M.A. Gesundheitsmanagement
Sehr geehrte Frau Franke-Gricksch,
ich bin zufällig auf Ihre Seite gestoßen, erstmal vielen Dank für all die spannenden Informationen. Ich selbst bin ein großer Fan der Herzratenvariabilität. Besonders die eigentlich recht simple Vermittlung des Konzepts finde ich hilfreich – man hat da oft gleich ein Aha-Erlebnis, wenn man Menschen darüber aufklärt, dass eine hohe Regelmäßigkeit des Herzschlags eben gerade nicht gut ist.
Mit Herzratenvariabilität und Schlaf habe ich mich vor Kurzem mehr beschäftigt. Habe da eine Studie gefunden, die angibt, dass die Schlafqualität von Kindern mit der HRV zusammenhängt, also Kinder mit schlechter Schlafqualität zeigten auch eine “schlechtere HRV” (https://academic.oup.com/sleep/article/36/12/1939/2709419). Eine andere spannende Studie zeigte wiederum, dass eine ausgeprägtere HRV mit besserer Schlafeffizienz verbunden ist (https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1389945713015360).
Einfach eine spannende Methode!
Schöne Grüße
Markus Stefka